„Müßiggang ist aller Laster Anfang“
Benedikt von Nursia


Ist das so? Es gab eine Zeit, in der stand derjenige, der arbeiten musste, am Rande einer Gesellschaft von Freien. Was den Freien vom Sklaven unterschied, war die Muße, also die Möglichkeit sich mit den wirklich wichtigen Dingen wie Philosophie, Kunst und Recht zu beschäftigen. In dieser Zeit ging man sogar davon aus, dass Arbeit um des Erwerbs Willen den Charakter schädige. Menschen, die arbeiteten, um sich und ihre Familien zu ernähren, hatten aus diesem Grund nie die Chance, ein öffentliches Amt auszuüben.
Ist Müßiggang also tatsächlich aller Laster Anfang? Oder ist er vielleicht sogar das höchste Ziel? Benedikt von Nursia, hat eine Antwort auf diese Frage. Für ihn ist Müßiggang eine Weiterentwicklung der Muße, eine für ihn zugegebenermaßen unerfreuliche. Während Müßiggang zu einer grundsätzlichen Ablehnung irgendetwas zu tun führen kann, ist Muße die Chance für eine willkommene Beschäftigung. Etwas zu tun, was Freude macht, schafft Lust auf das Leben und setzt Energie frei. Benedikt spricht von der Balance zwischen aktivem und kontemplativem Leben der Mönche. Ore et labore et lege – bete, arbeite und lese! In die heutige Zeit übertragen könnte es bedeuten: Arbeite, erhole dich und bilde dich!
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant gab diesem Kontext eine neue Qualität indem er sagte: „Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben.“ Dieses Verständnis des Verhältnisses von Arbeit zu Muße ist allerdings nicht nur Triebkraft für außergewöhnliche Leistungen, sondern birgt auch die Gefahr, die Balance zwischen beiden Polen zu verlieren.
Und genau das stelle ich bei Begegnungen und Gesprächen mit Menschen unterschiedlichster sozialer Hintergründe immer wieder fest: Sie bemessen die Qualität ihrer Lebenszeit, nach der Intensität und den Ergebnissen ihrer Arbeitszeit. Und wenn das für viele im​ Laufe ihres Arbeitslebens nicht schon ein ernstes, nicht selten auch gesundheitliches Problem mit sich bringt, so setzt dieses spätestens oft in dem Augenblick ein, in dem eine neue Lebensphase beginnt: Der Ruhestand.
Bereits wenn diese Phase lange angekündigt und geplant vollzogen wird, stehen viele Betroffene vor der Herausforderung, den Wert ihres Daseins neu bemessen zu müssen, fehlen ihnen doch jetzt die außergewöhnlichen Ergebnisse ihrer Arbeitsleistung als wesentliche Messgröße. Doch wieviel schlimmer trifft es diejenigen, die plötzlich, unerwartet und vielleicht sogar in einem kurzen aber emotional schmerzhaften Prozess aus ihrem Arbeitsleben herauskatapultiert werden? Für sie fällt nicht nur die zuvor beschriebene Messgröße weg, sondern sie sehen sich darüber hinaus auch noch mit einer gefühlten Aberkennung der Qualität und des Mehrwertes ihrer Arbeit in der Vergangenheit konfrontiert.
Das ist die Geburtsstunde von Krankheiten. Und ganz oben auf dieser Liste steht die Erkrankung der Seele. Sie ist verletzt. Sie sucht Halt. Und sie sieht die Chance, sich noch einmal zu zeigen und wertvolle Signale zur Frage aller Fragen zu senden: Warum bin ich hier? Was ist mein Auftrag? Was erfüllt mich? Womit möchte ich mich ab jetzt beschäftigen, um mir selbst und der Welt einen Wert-vollen Dienst zu erweisen?
Jetzt gilt es also zunächst ihr, unserer Seele, einen Dienst zu erweisen und uns auf den Weg zu machen, diese Fragen gemeinsam mit ihr zu beantworten.